Reisen

Am Mittwoch fand die Zwischenprüfung des dritten Studienjahres statt: Mündliche Prüfung zu den Themen Reisen und Schönheit. Zwei der Studierenden wurde unter anderem folgende Frage gestellt: War Reisen früher oder heute einfacher und warum?

 

In meinem Kopf stand die Antwort sofort fest: Natürlich ist Reisen heute einfacher. Durch neue Technologien, Billigflüge, offene Grenzen, Google-Maps und viele weitere Gründe ist Reisen heute so einfach und günstig wie nie zuvor. Ob eine Pauschalreise ins All-Inclusive-Hotel oder mit dem Rucksack durch Südostasien, Reisen ist absoluter Trend – Travelblogger posten täglich Fotos aus der ganzen Welt; Instagram und YouTube sind voll mit schönen Menschen vor traumhaften Kulissen…

 

Umso überraschender kam für mich dann folgende Antwort (gleich von zwei Studierenden unabhängig voneinander) in der Prüfung: Reisen war früher viel einfacher als heute. Warum? Weil man damals einfach hinfahren konnte, wo man wollte. Heute muss man Monate vorher ein Visum beantragen und braucht dann viel Glück, um überhaupt eines zu bekommen. Wenn man ausreisen möchte, muss man erst ins Nachbarland fahren, um dann von dort aus mit dem Flugzeug wegfliegen zu können. Die Reise bis zum Flughafen ist weit und teuer, von den Flugpreisen muss man gar nicht erst anfangen. Grenzen und Mauern überall – immer mehr Einschränkungen sind in den letzten Jahren hinzugekommen.

Wenn man Glück hat, kann man vom Unicampus aus bis nach Tel Aviv sehen und das Meer im Hintergrund erkennen. Möchte man allerdings ans Meer fahren, braucht man eine spezielle Erlaubnis – manch einer ist zum ersten und letzten Mal im Urlaub in Ägypten in einem Meer geschwommen…

 

Wie unterschiedlich die Perspektiven auf dieses Thema doch sein können. Eine vermeintlich einfache Frage, doch keine ganz so einfache Antwort. Ich erinnere mich daran, wie ich kurz nach meinem Freiwilligenjahr in Deutschland völlig überwältigt davon war, ewig weit fahren zu können, ohne kontrolliert zu werden. Unglaublich schnell von A nach B fahren zu können. Meinen Pass nicht ständig bei mir tragen zu müssen, sondern sogar ganz spontan nach Frankreich rüberzufahren und nicht einmal irgendwo meinen Personalausweis vorzeigen zu müssen. Nur ansatzweise konnte ich mir in dieser kurzen Anfangszeit vorstellen, wie es den Palästinenser*innen wohl normalerweise gehen muss.

 

Schon oft habe ich hier die Frage gestellt bekommen, warum ich freiwillig genau in diesem Gebiet gelandet sei – ich hätte mir doch lieber ein besseres Land auf dieser Welt aussuchen sollen. Außerdem begegnet mir häufig die Aussage, es sei ja schön, dass ich für eine Weile hier bleiben und das Land und die Menschen kennenlernen möchte. Aber für lange oder gar für immer hierblieben? Das würde ich als Europäerin ja niemals tun. Die „Internationals“ kommen und gehen, die Palästinenser*innen bleiben.

 

Es ist nicht immer einfach, hier wirklich enge Freundschaften mit den Einheimischen zu knüpfen, das habe ich während meines Freiwilligenjahres gemerkt und das merke ich besonders in der kurzen Zeit jetzt wieder. Meiner Einschätzung nach wollen sich viele Menschen nicht auf solche engen Beziehungen einlassen, wenn sie wissen, dass ihr Gegenüber sowieso kurze Zeit später schon wieder das Land verlässt und vielleicht nie wiederkommt. Und selbst nach Deutschland zu fliegen, um die entsprechende Person zu besuchen, ist für die meisten Menschen hier unglaublich schwierig.

 

Von einem ähnlichen Thema handelt ein Lied einer meiner palästinensischen Lieblingsbands: Lina. „Lina. Du hast uns verlassen. Du gingst nach Kanada und hast uns ruiniert…

Dieses besondere Land zieht viele Menschen aus der ganzen Welt an, die sich hier für kurz oder ein wenig länger eine schöne Zeit machen. So auch mich, nun schon zum vierten Mal.

 

Vor drei Wochen saß ich mit meiner Mitbewohnerin und zwei ihrer Freundinnen auf dem Balkon und berichtete davon, dass ich am Wochenende nach Jerusalem fahren würde. Eine der Freundinnen sagte leise auf Arabisch zu Zein, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nicht in Jerusalem gewesen sei. Ich hörte ihren Satz und spürte einen Stich in meiner Brust. Für mich mit meinem weinroten Pass das einfachste der Welt, mich in den Bus zu setzten und nach Jerusalem zu fahren. Wäre der große Checkpoint zwischen Ramallah und Jerusalem nicht, wäre man locker in zwanzig Minuten in der bedeutungstragenden Stadt. Früher bin ich eine solche Strecke jeden Morgen mit dem Bus gefahren, wenn ich von Dietlingen nach Pforzheim in die Schule musste. Unvorstellbar für mich, so nah an einer Stadt zu wohnen und diese nicht betreten zu dürfen. Bevor ich eine Woche später nach Tel Aviv ans Meer fuhr, wollte ich schon gar nicht mehr erzählen, wo ich die nächsten Tage verbringen würde… Als ich meiner Mitbewohnerin erzählte, dass ich von Jerusalem mit dem Zug nach Tel Aviv fahren möchte, war sie ganz erstaunt, dass man durch die neue Schnellstrecke innerhalb von einer halben Stunde in Tel Aviv sein kann. Sie sei bisher nur in Europa mit dem Zug gefahren.

Ich könnte von vielen solcher kleinen Begegnungen erzählen, und darüber hinaus viele Geschichten, die noch weitaus bedeutungstragender sind.

 

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall in Deutschland möchte ich Euch daran erinnern, welches unglaublich Glück wir haben. Ohne dass ich irgendetwas dafür getan hätte, bin ich in einem Land geboren, welches es mir ermöglicht, überall hinzureisen und mich frei durch die Welt bewegen zu können. Oft beschweren wir uns im Alltag über so unwichtige Kleinigkeiten. In dem Moment in der mündlichen Prüfung ist mir wieder einmal bewusst geworden, wie klein und nichtig viele dieser alltäglichen Probleme eigentlich sind und wie dankbar und glücklich ich jeden einzelnen Tag sein kann. Hoffen wir – nein, machen wir uns stark dafür – dass dies so bleibt. Kämpfen wir dafür, dass wir in Europa weiterhin in guter Nachbarschaft und mit offenen Grenzen miteinander leben können. Geben wir Menschen, die nicht so viel Glück hatten wie wir die Chance auf ein besseres, auf ein freieres Leben. Ohne Mauern – weder zwischen Ländern und Städten noch in unseren Köpfen.


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Kommentare: 1
  • #1

    Katharina (Samstag, 16 November 2019 23:03)

    Sehr beeindruckend und bedenkenswert.
    Die Band und "Lina" sind cool. ;-)
    Danke, Anna