Schattierungen

Wie konnte mir das nur passieren?


Ich bin jetzt schon über drei Wochen hier im Land und poste ständig schöne Fotos auf meinem Blog.

 

Aber Bilder von der Mauer, die ich zwar nicht jeden Tag, aber mindestens 3-4 Mal pro Woche zu Gesicht bekomme habe ich noch nie hochgeladen. Das fiel mir gestern auf, als ich wieder einmal beim Sprachkurs war.


Größtenteils besteht die "Sperranlage", welche Israel vom Westjordanland trennt, aus einem elektronisch gesicherten Zaun, doch auf rund 30 km (Quelle: Spiegel Online) wird daraus eine bis zu acht Meter hohe Betonmauer. Eine Mauer statt Zaun steht meist in den dicht besiedelten Gebieten in und um Jerusalem. Für die Palästinenser ein Hindernis, das den Alltag erschwert - für die Israelis ein "Bollwerk gegen den Terrorismus".


Jede Woche lernen wir Arabisch in einem Haus, das vielleicht 30 Meter von der Mauer entfernt steht, direkt an einem Checkpoint für Fahrzeuge. Jede Woche werde ich von Straßenhändlern darauf hingewiesen, dass ich dort nicht drüberlaufen kann, gefragt ob ich etwas kaufen will, verständnislos angesehen, wenn ich auf arabisch "la sukran" -nein danke- antworte und trotzdem weiter laufe, an der Autoschlange vorbei bis kurz vor die Kontrolle und dann rechts in die Einfahrt von Clemanse abbiege.

Jedes Mal wenn ich dort bin, jedes Mal wenn ich an der Mauer vorbeifahre oder laufe, jedes Mal wenn ich einen Checkpoint überquere oder ihn nur von weitem sehe wird mir die Situation, in der die Menschen hier leben ganz schlagartig und monumental vor Augen geführt.

Ich möchte jetzt nicht meine Meinung dazu hier kundgeben, ich glaube das ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht angebracht. Aber ich möchte meine Gefühle mit euch teilen.


Es geht nicht nur um die Mauer, es geht auch um Gefühle die hochkommen, wenn ich an den Flüchtlingscamps vorbeikomme... 

Durch ein Camp in Betlehem sind wir schon zweimal mit Khaled durchgefahren. Als im Jahr 1948 über 750.000 Palästinenserinnen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, bildeten sich solche Camps. Das Aida-Flüchtlingslager in Bethlehem wurde 1950 errichtet, zuerst ein Zeltlager, das von Menschen bewohnt wurde, die noch an eine Rückkehr in ihre Dörfer nach Kriegsende glaubten. Aida wurde bald ein Ort mit provisorisch errichteten Häusern mit Flüchtlingen, deren Hoffnungen auf eine Rückkehr in ihre Heimat im Laufe der Jahre schwand. Bis heute leben viele Menschen dort und man sieht sofort, dass sie immer noch in einer sehr schwierigeren Lage sind, ein Leben geprägt von Armut, Gewalt und Hoffnungslosigkeit.

 

Es geht um meine Gefühle, wenn alle an den Checkpoints aussteigen müssen und ich ganz entspannt sitzen bleiben könnte … wenn ich die Menschen hier auf den Straßen sehe und bei vielen von ihnen Leid und Hoffnungslosigkeit in den Augen erahnen kann … wenn ich nach Israel herüberkomme und sehe, wie die Menschen dort leben … wenn mir in Israel ständig Soldaten über den Weg laufen … wenn einer von ihnen - voll bewaffnet - mein Visum entgegennimmt … wenn ich zurück in das "A-Gebiet" fahre und auf großen roten Schildern zu lesen ist: "Lebensgefahr. Betreten für israelische Staatsbürger verboten." … und vor allem wenn ich mit Menschen spreche, die hier leben und wenn sie mir ihre Geschichte erzählen.


In diesen und noch vielen anderen Situationen bricht ein wahrer Sturm von Gefühlen in mir los. Ich fühle ich mich bedrückt, angespannt, bestürzt, erschüttert, frustriert, beklommen, hilflos, voller Mitleid, traurig, schockiert, verwirrt, erschrocken, ratlos, aufgewühlt, ungläubig....... und manches Gefühl ist einfach da, ohne dass ich es genau in Worte fassen kann.


Vor kurzem sagte einmal eine kluge Frau ungefähr folgendes zu mir: "Das Land hier, das Land drüben und der ganze sogenannte "Konflikt", haben Tausende von Schattierungen. Es gibt kein schwarz oder weiß, es gibt kein falsch oder richtig, kein ja oder nein." Und auch diese Schattierung "Mauer bzw. Bollwerk gegen den Terrorismus"- welche große Schatten auf viele Teile des Landes wirft - wollte ich euch heute mal im kleinen Ausschnitt meines persönlichen Blickwinkels zeigen.


Mauer, Sperranlage, Zaun - Bollwerk gegen den Terrorismus. Das "Ding" hat viele verschiedene Namen...
Mauer, Sperranlage, Zaun - Bollwerk gegen den Terrorismus. Das "Ding" hat viele verschiedene Namen...
Viele verschiedene Geschichten werden auf solchen Schildern an der Mauer erzählt.
Viele verschiedene Geschichten werden auf solchen Schildern an der Mauer erzählt.
Zwar nicht auf "der Mauer", aber ein sehr eindrückliches Bild von einem berühmten Sprayer.
Zwar nicht auf "der Mauer", aber ein sehr eindrückliches Bild von einem berühmten Sprayer.
Schu? - Was? dachte sich wohl dieser Straßenhändler, als ich das Foto gemacht habe..
Schu? - Was? dachte sich wohl dieser Straßenhändler, als ich das Foto gemacht habe..
Beit Clemanse -  Das Haus von Clemanse, unserer Arabischlehrerin.
Beit Clemanse - Das Haus von Clemanse, unserer Arabischlehrerin.
Die Mauer des Checkpoints in Bethlehem.
Die Mauer des Checkpoints in Bethlehem.
Hier warte ich manchmal, bis die anderen kommen oder bis der Unterricht anfängt, oft bin ich zu früh da (ich kann nie ganz abschätzen, wie lange ich für den Weg brauche). Vor mir liegt die Mauer des Checkpoints.
Hier warte ich manchmal, bis die anderen kommen oder bis der Unterricht anfängt, oft bin ich zu früh da (ich kann nie ganz abschätzen, wie lange ich für den Weg brauche). Vor mir liegt die Mauer des Checkpoints.

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Kommentare: 2
  • #1

    Michael Simang (Montag, 14 September 2015 12:13)

    Liebe Anna,
    "Es gibt kein schwarz oder weiß, es gibt kein falsch oder richtig, kein ja oder nein."
    Genauso haben wir das die beiden Mal, die ich in Jerusalem war, erlebt. Auch wir haben beide Seiten erlebt. Einerseits die teilweise entwürdigenden Einreisekontrollen für Palästinenser, die Du beschreibst. Andererseits versteht man das Sicherheitsbedürfnis der Israelis, wenn man selbst einmal von palästinensischen Kindern mit Steinen beworfen wurde oder wenn 14 Tage nachdem man wieder zu Hause war eine Bombe auf dem Busbahnhof losgeht - genau dort, wo man ein paar Tage vorher selbst gestanden hat.
    Ein großes Problem ist sicher, das bereits mehrere Generationen mit dieser Situation aufgewachsen sind, und sie seit frühester Kindheit nur den Hass auf die bzw. die Angst vor der jeweils anderen Seite kennengelernt haben. Beides - Hass und Angst - kann ich gut nachvollziehen. Aber beides verschärft eben den Konflikt und rückt eine wirkliche Lösung in immer weitere Ferne. Ich habe wirklich keine Idee, wie sich diese Situation friedlich auflösen könnte.
    Aber gerade deshalb halte ich Eure Arbeit auf beiden Seiten der Mauer für ungeheuer wichtig. Den Kindern muss man eine Alternative zu Hass und Angst aufzeigen - auch wenn es einem vielleicht manchmal selbst schwer fällt, diese Alternative zu sehen.
    Liebe Grüße
    Michael

  • #2

    Anna (Montag, 14 September 2015 16:21)

    Lieber Michael,
    ich danke Dir für diesen Kommentar. Er ergänzt meinen Text sehr gut und ich kann Dir nur Recht geben in dem, was du schreibst.
    Es ist wichtig, die Dinge hier von unterschiedlichen Seiten zu betrachten und sich jedes Mal aufs Neue mit "der anderen Seite" zu beschäftigen. Auch ich habe für das kommende Jahr fest vor, immer wieder meinen Blickwinkel zu wechseln, mit unterschiedlichen Menschen Kontakt zu haben, unterschiedliche Meinungen und Geschichten zu hören und "Alternativen" zu suchen, um auch den Menschen hier die verschiedenen "Schattierungen" aufzuzeigen und ihnen andere Betrachtungsweisen anzubieten.
    Liebe Grüße,
    Anna